WARUM ICH MANCHMAL AUS DEM FENSTER STARREN MUSS?!

Ich weiß nicht, ob das eine Kolumne, eine Kurzgeschichte oder nichts davon ist, wenn ich ehrlich bin. Auf jeden Fall bin es ich, ich, ganz nahbar und verletzlich, wenn vor allem mein Auftritt und die Energien der anderen Menschen auf Social Media mich auslaugen und ich einfach mal aus dem Fenster starren muss:

Es ist alles zu viel, meine Brust fühlt sich so schwer an und ich kann kaum atmen. Ich bekomme kaum Luft und doch ist mein Puls ruhig, fast zu ruhig. 

Seit drei Stunden sitze ich auf dem Sofa und starre aus dem Fenster. Außer einer Häuserfront mit zugezogenen Gardinen sehe ich nichts. Schatten bewegen sich hinter – es müsste das 4.OG im Vorderhaus sein – den vergilbten Vorhängen. Ich höre Gläser scheppern, die jemand um 23.00 Uhr in den Mülleimer im Innenhof pfeffert. Berlin eben, im Schwabenland hätte sich das zur Nachtruhe keiner mehr getraut – Zucht und Ordnung herrscht an dem Ort meiner Wurzeln. Jeder macht sein Ding, um gendergerecht zu bleiben: Jede macht ihr Ding oder divers: Alle machen Dinge. Ein lautes Stöhnen aus dem Hinterhof, das Pärchen aus dem 2.OG hat mal wieder das Fenster offen gelassen. 

Ich starre einfach weiter die Häuserfront an und nehme alle vertrauten Geräusche um mich herum wahr. Nennt man das meditieren? Eigentlich beginnt jede Sitzung doch genau so. Ich soll endlich alles um mich herum akzeptieren und die Schwingungen in positive Energien umwandeln. Hier schwingt gar nichts mehr. Ich könnte regungsloser und lethargischer im Moment nicht existieren. Würde sich mein Hund so verhalten, würde ich mit ihm zum Tierarzt gehen. 

Ich selbst gehe aber nicht mehr zum Arzt. Das Gesundheitssystem hat mir die Laune daran verdorben. Ich zahle Unsummen, bin nun Pro und Kontra Profi im Bereich der gesetzlichen oder privaten Krankenversicherung und muss mich einfach dem System unterwerfen. Ich vertraue meinem Berater sowie ich dem Koch hinter dem Herd vertraue. Jeder hat ja eine Berufung. 

Was ist eigentlich meine Berufung? Ich liebe das Schreiben, habe aber manchmal das Gefühl, dass ich mit dieser Begabung so knapp 50 bis 100 Jahre früher hätte geboren werden sollen. Alle wollen nur noch glotzen, in viereckige Geräte. Ob 16:9 oder 4:5 hauptsache schnell konsumierbar. Eine geballte Ladung an subjektiven Meinungen, die als Fakten und objektiven Input verkauft werden. #Werbung ! 

Ein Schrei aus einer Wohnung, die ich bis heute nicht zuordnen kann. Da war auch schon öfter die Polizei vor Ort. Häusliche Gewalt? Wie oft schauen wir weg, wie oft herrscht Gewalt in unmittelbarer Umgebung. Wie oft haben wir selbst schon Gewalt erfahren? Zur Polizei kann man ja nur mit blauem Auge und Zeuge gehen. Bei verbaler und psychischer Gewalt wird man nur belächelt oder selbst als die Bekloppte abgestempelt. In Berlin erlebt man eben das, was unterhaltsame Serien beim Streamen hergeben. Doch wo bleibt das Happy End? 

Ist eigentlich jeder Film und jede Serie bewusst genau dann zu Ende, weil es danach einfach nur noch bergab geht? Happy und End sollte nicht einmal in einem Satz vorkommen. Denn ein Ende ist eigentlich nichts „Glückliches“, es ist ja schließlich vorbei. 

Bildstrecke mit @lenaksamuels am Wannsee Berlin im Sommer 2020 // Blauer Anzug | Tiger of Sweden

shot by Kimyana Hachmann

Ich starre immer noch an die Häuserfront und fange an, mich zu ärgern. Ich nehme es mir übel, dass ich die Zeit gerade nicht sinnvoller nutze. Ich könnte eine Sprache lernen, ich könnte ein Hörbuch hören, ein Buch oder Magazin lesen, mich auf YouTube inspirieren lassen, Podcasts aufnehmen und schneiden, Blogartikel schreiben, mein Journal weiterführen, Yoga machen, aufräumen, das Bad putzen, die Teller abspülen, Freunde treffen oder alle offenen WhatsApp Konversationen beantworten.

Ich könnte nach Unterkünften für die nächste Reise suchen oder mir ein Zelt bestellen, den Mietvertrag beenden und die Kaution für ein Interrail Ticket auf den Kopf hauen. Frei sein klingt verlockend, aber ich nehme mich ja selbst mit. Starre ich dann Bäume so an, wie es die Häuserfront gerade ertragen muss?

Mir fallen die Augen zu. Die Gedanken in meinem Kopf erschöpfen mich. Ich habe keine Erkenntnis gewonnen, ich hatte das auch nicht vor. Ich wollte einfach starren. 

X Kimyana

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2 Kommentare

  1. Tamina
    26/07/2020 / 22:14

    Ich muss zugeben, ich habe dich in den letzten Tagen vermisst. Deine Texte, deine umwerfenden Bilder, mit denen du uns beschenkst. Ich kann so gut verstehen, dass du immer mal wieder an diesen Punkt kommst, denn diese ständige Präsenz muss sehr anstrengend sein. Nimm dir die Zeit, die du brauchst, tanke auf und komme wieder oder gehe einen neuen Weg. Ich wünsche dir das Beste, liebe Kimyana.

  2. Lory
    26/07/2020 / 23:31

    Sehr berührender und authentischer Beitrag, liebe Kim! Ich verstehe vollkommen, wenn du einfach mal innehältst, alles um dich herum nur wahrnimmst, einschließlich deiner Gedanken, und das alles ohne Kommentar so stehen lässt. Ja, das könnte man Meditation nennen. Da ist auch nichts in positive Schwingung umzuwandeln. Sich einfach dem, was gerade ist, hinzugeben – das machst du genau richtig.
    Alles Liebe dir,
    Lory

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